Dienstag, 21. September 2021

Chancengerechtigkeit in der Volksschule dank Frühförderung

Die Weichen bezüglich zukünftigem Schulerfolg werden vor dem 4. Altersjahr gestellt. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, obwohl die Daten z.B. zu Sprachkenntnissen oder Herkunft eigentlich vorliegen.

Chancengerechtigkeit in der obligatorischen Volksschule der Stadt St.Gallen; Postulatsbericht
Jacqueline Gasser-Beck in eigenem Namen und als Mitpostulantin


Es ist erfreulich zu sehen, dass der eingeschlagene Weg einer gezielten Frühförderung in der Stadt St.Gallen auch durch entsprechende Recherchen im Zusammenhang mit der Beantwortung des Postulats Chancengerechtigkeit bestätigt werden konnte.


In der Wissenschaft besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Weichen bezüglich zukünftigem Schulerfolg bereits vor Schuleintritt, im Alter zwischen 0 und 4 Jahren gestellt werden. Insofern müsste ich selbstkritisch zugeben, dass unsere damals gestellten Fragen zur Chancengerechtigkeit eigentlich am falschen Ort ansetzen. Korrekterweise hätten wir fragen müssen, ob die Massnahmen, die in der Frühförderung ergriffen werden, auch tatsächlich die gewünschten Effekte erzielen. Effekte, die keineswegs nur den schulischen Erfolg betreffen. So wäre es beispielsweise leichter gefallen über das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Angeboten wie MiniMove oder der Finanzierung eines Ausbaus der Schuldenberatung zu urteilen. Die Intention der Postulatinnen war eine faktenbasierte Entscheidungsgrundlage zu erhalten, um besser zu verstehen, wie es um die Changengerechtigkeit in der Volksschule steht, bzw. wo wir künftig ansetzen müssen, um dieselbe zu erhöhen.


Leider ist dies mit der Beantwortung des Postulats nicht möglich. Obwohl wir ausdrücklich um eine Evaluation gebeten haben, wurde lediglich eine minimale Auswertung eines sehr beschränkten Datensets vorgenommen.
 

Wir wollten in Frage 2 wissen, inwiefern die „soziale Herkunft, Migrationshintergrund oder das Geschlecht“ die Ausbildungskarriere beeinflussen. Beantwortet wurde streng genommen nur die Frage des Geschlechts. Immerhin hatten wir Postulatinnen den richtigen Riecher und haben die richtige Frage gestellt.


Chancenungerechtigkeiten treffen nämlich insbesondere diejenigen Kinder, die in „sozial belasteten Familien“ aufwachsen.
Eine soziale Belastung in einer Familie liegt vor, wenn mindesten drei der folgenden sieben Faktoren erfüllt sind:

  • tiefes Einkommen
  • Arbeitslosigkeit oder instabile Arbeitsverhältnisse
  • niedriger oder kein Berufsabschluss, geringe Bildungsorientierung
  • Migration und Unvertrautheit mit der Kultur und den Systemen der Umgebung,
  • insbesondere mit dem Gesundheits- und Bildungssystem
  • geringe oder unzulängliche mündliche Kompetenzen in Deutsch
  • psycho-soziale Belastungen: belastende familiäre Verhältnisse (konfliktbehaftete Trennung / Scheidung / Gewalt)
  • psychische und physische Belastungen / Krankheiten, Suchtverhalten

 

Indexiert, bzw. auswertbar gemacht werden können diese Faktoren mit Daten, die jeder Stadt vorliegen:

  • Finanzielle Belastung (Sozialhilfe oder tiefes steuerbares Einkommen, vergünstigte FSA)
  • Migration (insbesondere keine dauerhafte Aufenthaltbewilligung der Eltern)
  • Psycho-Soziale Belastung (Kinder die in einer Ein-Eltern-Familie leben)
  • Beengte Wohnverhältnisse (für 4 Personenhaushalt unter 70m2)


So geschehen in der Stadt Zürich im „Schlussbericht: Angebot der frühen Kindheit in der Stadt Zürich: Situationsanalyse und Handlungsbedarf“ vom November 2019. Meine Recherche-Aufgabe über das Wochenende…
 

Vorliegend wurde mit einer – nota bene – viel zu knappen Datenreihe von zwei Jahren zur Erstsprache. Leider wurden nicht nur zu wenige, sondern auch die falschen Daten ausgewertet, geht doch die Wissenschaft davon aus, dass vielmehr die Vielsprachigkeit – nämlich zwei oder mehr Sprachen beim Schuleintritt - problematisch ist.
 

Dies wurde mit der Aussage begründet, dass andere Daten leider nicht zur Verfügung stünden. Das mag schon stimmen, wenn man lediglich die Daten aus der eigenen Direktion auswertet oder einmal mehr nicht über den Tellerrand hinausschaut. Im Zeitalter von Open Data verfügt eine Smart City wie St.Gallen aber sehr wohl über aufschlussreiche Daten wie im Beispiel von Zürich ausgeführt.

Mit entsprechenden methodischen Kenntnissen können diese Daten, selbstverständlich anonymisiert, ausgewertet werden.
Auch wenn man von einer Verwaltung vielleicht kein umfassendes wissenschaftliches Vorgehen erwarten darf, kann doch erwartet werden, dass man vorhandene Daten nutzbar macht – das versuchen wir zumindest unseren Studierenden einzubleuen.
 

Die Auswertung dieser Daten könnte uns beispielsweise aufzeigen, ob Kinder, deren Eltern das Angebot der Mütter- und Väterberatung besucht haben, die in einem städtischen Hort betreut wurden oder die ein Mini-Move Angebot genutzt haben und gleichzeitig aus einer sozial belasteten Familie stammen eine signifikant bessere Chance haben, ihre im frühkindlichen Alter vorhandenen Risikofaktoren zu überwinden bzw. ihre Bildungschancen zu verbessern.
 

Es wäre interessant zu erfahren, welche Angebote in unserem Strauss der frühen Förderung signifikant besser abschneiden, um besser zu wissen, wo und wie städtische Ressourcen für alle gewinnbringend eingesetzt werden könnten.
 

Ja, die Auswertung der Daten ist mehrdimensional, direktionsübergreifend und auf einen längeren Zeitraum ausgelegt. Aber wir geben in diesem Bereich ca. 18 Mio jährlich aus – da könnte man sich mE eine externe wissenschaftliche Begleitung leisten, wenn man selbst nicht über die methodischen Kenntnisse verfügt. Ansonsten müsste man sich auch fragen, ob sich die Investition in die Smart City lohnt, wenn wir nicht in der Lage sind, die gewonnenen Daten sinnvoll zu nutzen.
 

Wie bereits anfangs erwähnt, die Ergebnisse und die darauf abgeleiteten Massenahmen sind an sich richtig. Sie sind allerdings eher zufällig und alles andere als evidenzbasiert, was dem eigentlichen Auftrag entsprochen hätte. Aus diesem Grund werde ich mich gegen eine Abschreibung des Postulats aussprechen.